Sommersemester 2022

Flugblätter

Zeitung zum Abschluss des Sommersemesters 2022

Die Liste LINKS trifft sich freitags, 16 Uhr,
im „Syntagma” ­ studentischer Raum
neben dem HASPA-Café (WiWi-Gebäude)

Lindners Hochzeit
oder
Der Niedergang des Liberalismus

Ignorant

„Es kommen härtere Tage. Die Preise für Lebensmittel und Energie sind bereits drastisch gestiegen – und ein Ende ist nicht abzusehen. Vielen Menschen droht der Abrutsch in die Armut, vielen Armen der Abrutsch ins Nichts. Es wird, das ist klar, massive Hilfsprogramme geben müssen: für Gasversorger, für einzelne Industriezweige, aber auch für Bürgerinnen und Bürger, insbesondere für Ärmere. Es darf keine Frage des Geldbeutels sein, ob Menschen den Winter bei würdiger Raumtemperatur verbringen. Die Unterstützung wird zig Milliarden kosten, Geld, das der Bund eigentlich nicht hat. Es muss also an anderer Stelle gespart oder es müssen neue Einnahmequellen erschlossen werden. Naheliegend wäre zum Beispiel, den Spitzensteuersatz zu erhöhen. Man könnte auch eine Vermögenssteuer einführen. Oder einen Reichen-Soli. Weil ja erwiesen ist, dass Wohlhabende nicht nur besser durch Krisen aller Art kommen, sondern zum Teil sogar noch reicher aus ihnen hervorgehen. Die Ampelregierung hingegen hat einen anderen Kniff gefunden, wo sich Geld einsparen lässt: bei Langzeitarbeitslosen, den Ärmsten der Gesellschaft. (… ) Vielleicht können Kanzler und Finanzminister an diesem Wochenende am Rande von Christian Lindners Hochzeit noch einmal über die Kürzungspläne plaudern. Bei einem Gläschen Champagner in der Sylter Sansibar.“

Markus Feldenkirchen, „Respektlos/Der gesunde Menschenverstand“, „SPIEGEL“ Nr. 28/9.7.2022, S. 21.

 

Seit je her zu beachten

„Allerdings, der Arbeiter, der Kartoffeln kauft, und die ausgehaltene Mätresse, die Spitzen kauft, folgen beide nur ihrer respektiven Meinung; aber die Verschiedenheit ihrer Meinungen erklärt sich durch die Verschiedenheit der Stellung, die sie in der Welt einnehmen und die selbst wiederum ein Produkt der sozialen Organisation ist.“

Karl Marx, „Das Elend der Philosophie“ (1847), Marx-Engels-Werke (MEW), Band 4, S. 75.

 

Nicht von Dauer

„Denn jede Zeit ist eine Sphinx, die sich in den Abgrund stürzt, sobald man ihr Rätsel gelöst hat.“

Heinrich Heine, „Die romantische Schule“, Erstes Buch, 1833.

 

Aussicht

„Eine der größten Herausforderungen der Epidemie von 2020 liegt gerade in der Frage, ob der Sozialstaat in den reichen Ländern wieder stärker wird und auch in den armen Ländern zulegt.“

Thomas Piketty, „Der Sozialismus der Zukunft / Interventionen“, München 2021, Vorwort S. 16.

Friedrich Merz, amtierender CDU-Vorsitzender kam – selbstfliegend – mit einem Privatflugzeug nach Sylt, um an der Hochzeit des FDP-Bundesfinanzministers teilzunehmen.

Dieser wiederum fuhr nach der standesamtlichen Zeremonie mit seiner Angetrauten im offenen Porsche Targa davon. Alle lächeln.

Von ökologischer Vernunft sei hier nicht die Rede, und auch nicht davon, daß man mit einem 9-Euro-Ticket auch auf diese Insel kommt. - Was allerdings nicht üblich ist.

Auch ginge es den wahrhaft Bedürftigen in diesem Land und darüber hinaus nicht besser, wenn die Genannten auf ihre kostspieligen Extravaganzen verzichteten.

Gleichwohl schreit ihre konzeptionelle soziale Ignoranz in den Sylter Sommerhimmel bzw. in die Fotos der Regenbogenpresse.

Bücher

„Wenn der Mensch
von den Umständen
gebildet wird, so muß
man die Umstände
menschlich bilden.“

Karl Marx/Friedrich Engels,
„Die heilige Familie“
1844/45, MEW 2, S.138.

Schon die 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung sind ein politischer Hieb ins Gesicht der Bevölkerung(en). Hinzu kommen die Verzichtspredigten der grünen Abteilung in der Regierung. Darüber hinaus soll am Sozialen gekürzt werden. So nehmen die Probleme und die soziale Ungleichheit zu. Die „soziale Organisation“ befindet sich auf der schiefen Ebene. Die Kartoffeln sind teuer für diejenigen, die kein Privatflugzeug besitzen.

Diese Tatsache ist zunehmend unhaltbar geworden. Des Rätsels Lösung besteht in einer nachdrücklichen Umverteilung (Steuern und Löhne), in Frieden und Abrüstung und internationaler Solidarität (Schuldenschnitt, echte Entwicklungshilfe, Freigabe pharmazeutischer Patente) sowie der ernsthaften Bewältigung der Klimakrise (erneuerbare Energien, Energieunternehmen zurück in öffentliche Hand, Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs).

Nebenbei: Auch das BAföG sollte bedarfsgerecht, darlehensfrei und elternunabhängig erweitert werden.

Die soziale Not in einem eigentlich reichen Land brennt auf der Seele. Niemand sollte sich schuldig fühlen oder verzichten. Dagegen gibt es ja auch schon allerlei Engagement – von der Friedensbewegung, den Gewerkschaften, den Sozialverbänden und Teilen mancher Parteien. Die Unerträglichkeit der sozialen Ungerechtigkeit bricht sich Bahn zu begründeten Ansprüchen und Forderungen einer sozialen, zivilen, ökologischen und demokratischen Wende. Die Kartoffel darf nicht zum Luxusgut werden. Das gilt ebenso für die menschlichen Lebensmittel Bildung, Kunst, Kultur, Wissenschaft und Gesundheit. Die Menschenwürde hat ihren gesellschaftlichen Inhalt. Das sei unser Thema.

Für eine radikale Renaissance
emanzipatorischer Bildung

„Die neuen Bildungspläne also – über kein anderes Thema der Schulpolitik ist in den vergangenen Monaten so heftig und emotional gestritten worden wie über Rabes Entwurf für das Mammutwerk, in dem steht, was und wie allgemein und in jeder einzelnen Klassenstufe gelehrt und gelernt werden soll. Mehr Klausuren, mehr Verbindlichkeit und mehr inhaltliche Vorgaben – vielen Lehrkräften und Eltern gehen Rabes Ideen zu weit. Die zwölf Jahre alten gültigen Bildungspläne hatten die Kompetenzorientierung der Schülerinnen und Schüler statt eines Wissenskanons in den Mittelpunkt gerückt.“

Peter Ulrich Meyer, „Bildungspläne – diese Kompromisse deutet Rabe nun an“, Hamburger Abendblatt, 9.7.2022.

 

„Einer emanzipatorisch eingestellten Bildungspolitik muss es gerade in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisensituation darum gehen, die in Kindheit und Jugend immer enthaltenen rebellischen Potenziale auch gegen illegitime Zugriffe zu erhalten und freizusetzen. Den Emanzipations- und Autonomiebedürfnissen von Kindern und Jugendlichen ist gerade angesichts der gesellschaftlichen Krisensituation zum Ausdruck zu verhelfen. Räume für die Artikulation und Realisierung von Lebenslust und Zukunftszuversicht müssen erkämpft werden, ohne der Ideologie einer neoliberalen Spaßgesellschaft zu erliegen.“

Prof. Armin Bernhard, „Vergessene Dimensionen“, in: Forum Wissenschaft 1/21.

 

„Wer a sagt, der muß nicht b sagen. Er kann auch erkennen, daß a falsch war.“

Bertolt Brecht, „Der Jasager. Der Neinsager“, 2. Bild (Der Knabe), 1930.

Zur Erinnerung.

Über zwei Jahre Pandemie und Eindämmungspolitik mit über weite Strecken verschlossenen, maskierten und distanzierten Bildungseinrichtungen haben schweren Schaden hinterlassen.

In den Schulen, ebenso in den Hochschulen.

Soziales Lernen in Kooperation und Begegnung mit anderen Perspektiven, erfreuliches solidarisches Miteinander, die lebendige und streitbare Diskussion um zentrale Herausforderungen der Zeit (Frieden, Klima, gegen Rechts, soziale Gerechtigkeit, Gesundheitsentwicklung) – all das hatte im „Notbetrieb“ wenig Raum. Und wenn sonst nichts lief – Prüfungen gingen immer. Eine scharfe Vertiefung der ohnehin harten sozialen Ungleichheit (nicht nur) in der Bildung und erhebliche kulturelle und mentale Beeinträchtigungen sind die Folge.

Lernen.

Aus den Fehlern der Vergangenheit kann und sollte gelernt werden. Offenkundig geht völlig in die Irre, nun noch die Prüfungslast, die Menge einzutrichternder Wissenshäppchen und den Konkurrenzdruck zu erhöhen. Auch eine einfache Rückkehr in Vor-Lockdown-Zeiten ist ungenügend. Und mehr „Digitalisierung“ ist ohnehin schlicht Unfug.

Für die Entwicklung einer Perspektive sozialer Wohlentwicklung Aller gegen die gegenwärtige ökonomische Krise brauchen wir die Bildung kritisch denkender Geister. Für die Rückgewinnung des Friedensgedankens gegen Kriegsgetrommel und Aufrüstungspropaganda sind solidarische mündige Weltbürgerinnen gefragt. Die Überwindung des Klimawandels und der profitgetriebenen Ausbeutung auch der Natur verlangt nach selbstbewusst engagierten Rebellen. Der Demagogie von Rechts kann am besten durch wahrheitsliebende aufgeklärte Menschen entgegengetreten werden.

Auf diese Weise und dafür zu lernen macht Freude und schafft Zuversicht.

Neuanfang.

Den Herausforderungen der problematischen Gegenwart angemessen, hat sich die Universität die Mitwirkung an der „Sustainable Development Goals“ der Vereinten Nationen als zentrale Aufgabe gesetzt. (Diese zieren übrigens auch folgenlos den einleitenden Teil der Bildungspläne.) Ideologie und Praxis neoliberaler (Bildungs-)politik – Standortkonkurrenz, unmittelbar verwertbare Forschung „just in time“, Ausbildung von nützlichem „Humankapital“ – sind damit unvereinbar. Wissenschaft und Bildung müssen ganz anders, das heißt relevant für die gesellschaftliche Entwicklung werden.

Dabei helfen: die Versenkung der Bachelor/Master-Hürde, die massive Reduzierung von Prüfungen und weitgehende Abschaffung von Benotungen, die Etablierung kooperativer Prüfungsformen, die Rückbesinnung auf exemplarisch vertieftes Lernen statt Kanonwissen, ein gleichberechtigtes Lehr-Lernverhältnis von Studierenden und Lehrenden in der gemeinsamen weltbezogenen Erkenntnisentwicklung, dafür auch die enge Verbindung von Forschung und Lehre. Eine erhebliche Erhöhung der staatlichen Grundfinanzierung ist dabei unausweichlich – und die vollständige Rückkehr in Präsenz.

Gemeinsam für diese Entwicklung zu streiten, sich dafür mit anderen auszutauschen, sich in Fachschaftsräten, Orientierungseinheiten und Hochschulgruppen zu organisieren, ist bereits eine neue Lebenslust.

Militärische oder zivile Zeitenwende?
Es liegt an uns!

„Das aktuell gestiegene öffentliche Bewusstsein für sicherheitspolitische Herausforderungen schafft Akzeptanz für die Aufwertung der Sicherheitspolitik und die Neuallokation von Mitteln für die Bundeswehr. Dies zeigt sich im Hinblick auf die einhundert Milliarden Sondervermögen und die Bereitschaft, das Zwei-Prozent-Ziel der NATO einzuhalten. Aufgrund der dadurch wachsenden militärischen Stärke wird Deutschland künftig eine größere Rolle in sicherheitspolitischen Belangen zukommen. (… )
Die Bundeswehr sollte jetzt auf der Basis strategischer Überlegungen neu ausgerüstet – statt nur aufgerüstet werden.“

Acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften: „Sicherheit, Resilienz und Nachhaltigkeit“, Juni 2022.

 

„Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander.“

Karl Marx und Friedrich Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei”, 1848, Marx-Engels-Werke (MEW) Band 4, S. 479.

Die „Stimme der Technikwissenschaften“ meldet sich bellizistisch zu Wort: Bei der Militarisierung der Gesellschaft – unter dem Vorwand des Ukraine-Krieges – möge die Wissenschaft begeistert mitmachen und in der „Sicherheitsforschung aktiver werden“. Die Zivilklauseln, die Militärforschung untersagen und eine zivile Forschung für eine gerechte Gesellschaft gewährleisten sollen, müßten dafür „kritisch überdacht werden“. Den Bundesländern Bremen und Thüringen wird empfohlen, diese aus den Hochschulgesetzen zu streichen; den Hochschulen, sie aus ihren Satzungen zu entfernen.

Wohin soll das führen? Zu noch mehr sogenannter Sicherheit – als „Basis unserer Rechtsordnung und unseres Wohlstands“. Krieg als „Vater aller Dinge“?

Dabei liegt auf der Hand: Noch mehr Rüstung, noch mehr Waffen werden keinen Frieden schaffen!

Die Arbeitsstelle Kriegsursachenforschung (AKUF) der Uni Hamburg registrierte allein im Jahr 2021 in 28 Ländern kriegerische Auseinandersetzungen, 2022 ist nicht nur die Ukraine hinzugekommen. Die tiefe Störung der internationalen Beziehungen, das gefährliche Wettrüsten, die besinnungslosen Wirtschaftskriege, die überall schädliche Inflation, die abgrundtiefe soziale Ungleichheit und die Zerstörung der Umwelt sind nicht aufgrund der Zivilklauseln an den Hochschulen, der Friedensbewegung oder diplomatischer Entspannungspolitik entstanden. Im Gegenteil, sie alle – wir alle – sind Faktor dafür, daß die Menschheit noch existiert und nach Besserem strebt. Frieden ist der Ernstfall.

Viele Stimmen der Vernunft: 77 Hochschulen bundesweit haben sich – auf koordinierte studentische Initiative hin – eine Zivilklausel gegeben, um ihrer wissenschaftlichen Arbeit einen höheren gesellschaftlichen Sinn zu geben.

Die Uni Hamburg steht laut ihrem Leitbild u.a. für „Internationalisierung von Bildung und Wissenschaft für eine friedliche und menschenwürdige Welt“, und die MIN-Fakultät hat in ihrer Satzung gefasst: „Die MIN-Fakultät will allein zu friedlichen Zielen beitragen und nur zivile Zwecke erfüllen.“ Auch hierfür haben sich kritische Studierende besonders engagiert.

Von hier aus melden sich WissenschaftlerInnen zu Wort und wollen „Alternativen denkbar machen“: Der Westen trage mit Völkerrechtsbrüchen und der Kündigung von Abrüstungsverträgen eine Mitverantwortung für die Eskalation in der Ukraine, diese Art von Sicherheitspolitik müsse durch eine Friedenslogik ersetzt werden. (Melanie Hussak und Jürgen Scheffran: „Alles über Bord werfen? Friedenswissenschaft und Friedensbewegung im Kontext des Ukrainekrieges“, Forum Wissenschaft Nr. 2. Juni 2022, S. 48-50.) Sie sind Mitstreitende für eine Zeitenwende der Kooperation, der Abrüstung und des Friedens, für gemeinsame Sicherheit und Nachhaltigkeit.

Auch in Russland sprechen sich tausendfach mutige Intellektuelle für ein Ende des Krieges aus und Aktivisten der ukrainischen Friedensbewegung arbeiten – ebenfalls gegen Druck und Drohungen – für gewaltfreien Widerstand und eine neue Kultur des Friedens.

Anfang Juli haben über 4000 Menschen in Berlin beherzt für „100 Milliarden für eine demokratische, zivile und soziale Zeitenwende“ demonstriert. Weitere Aktivitäten im Herbst stehen bevor.

Eine engagierte Zivilgesellschaft, die ihren Namen verdient, ist lebendig gegen den Tod.

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Jakobinersperling